Ai Weiwei tritt sowohl als Künstler als auch als Regimekritiker auf. Wie er seine politischen Positionen mit Hilfe seiner kreativen Ideen verdeutlicht, das zeigt mir die Ausstellung „Ai Weiwei. In Search of Humanity“ in der ALBERTINA modern.
Ausstellung „Ai Weiwei. In Search of Humanity“
Die ALBERTINA modern zeigt mit rund 100 Objekten die bisher größte Retrospektive über den chinesischen Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei. Auf meinem Rundgang durch die Räume lerne ich die vielfältige Ausdrucksweise des Künstlers kennen und schätzen.
Über die Pandemie in China
Ich sehe mir den Film über die Pandemie in China an. Ich bin fasziniert von den Hochhäusern. Sie haben wie Adlernester ganz oben kleine Türmchen. Wer da wohl wohnen mag? Die Kamera schwenkt nach unten. Die Straßen sind leer. Nur ein Paketbote schiebt sein vollbeladenes Fahrzeug zwischen zwei dieser Hochhäuser. Er scheint am Ziel angekommen zu sein. Mühsam packt er alles aus und teilt die Waren nach Adressaten auf. Diese holen die Pakete an definierten Punkten ab. Das Verhältnis von Hochhäusern voller Wohnungen und nur wenigen Personen auf den Straßen lässt die Szene surreal erscheinen.
Über die Flüchtlinge im Mittelmeer
Ai Weiwei fordert die Wahrnehmung der Betrachter seiner Werke heraus. Der Raum ist mit einer Tapete mit antiken Szenen dekoriert. Szenen, wie ich sie sonst auf griechischen Vasen vermuten würde. Ein genauer Blick zeigt mir: Es sind Szenen von modernen Kriegen und Fluchtsituationen. Lediglich die Verwendung von antiken Stilmitteln lassen mich für eine kurze Zeit glauben, ich blicke auf ein griechisches Wandfries.
Über China und Fahrräder
In China ist ein Fahrrad umgefallen. Solche Sprüche hören wir in Österreich öfters. Ich weiß nicht, ob Ai Weiwei diesen Spruch kannte, als er seine Werke aus zusammengesetzten Fahrradrahmen schuf. Sie erinnern mich an Readymades im Stile von Duchamp. Nur viel komplexer angelegt. Eine Anhäufung von gehäckselten Fahrradteilen wirkt hingegen trivial. Als Texter, der auch für Fahrradmagazine schreibt, blicke ich entgeistert auf diese Ansammlung von Gummi- und Metallteilen.
Über die Vergänglichkeit von Dingen
Was meine persönlichen Vorlieben betrifft, bin ich von zu Sand zerriebenen Tonwaren besonders beeindruckt. Ai Weiwei hatte antikes Material fein zerrieben und in großen Glasbehältern abgefüllt. In einem mächtigen Regal wirken die Gläser wie eine Sammlung von wertvollen Arzneien. Die Botschaft ist aber eine andere: Auch die Dinge werden einmal zu Staub zerfallen. Das sitzt. Hänge ich doch selbst sehr an antikem Material. Aber wir werden nur frei sein, wenn wir akzeptieren, dass auch diese Stücke nicht ewig existieren werden.
Über das Erdbeben in Sichuan
2008 erschüttert ein starkes Erdbeben die Region von Sichuan. Unter den Toten sind auffallend viele Schülerinnen und Schüler. Es besteht der Verdacht, dass die Schulgebäude nicht korrekt gebaut wurden. Ai Weiwei begibt sich in die Region und sammelt Informationen.
In einem langen Video fasst er die Interviews mit den trauernden Angehörigen zusammen. Das Video rührt mich sehr. Neben der dokumentarischen Tätigkeit setzt sich Ai Weiwei auch künstlerisch mit der Katastrophe auseinander. Eine riesige Schlange, die sich aus 100en Schul-Rucksäcken zusammensetzt, schlängelt sich unter der Decke des nächsten Raumes.
Über die Zeit als Gefangener
In einem großen Saal setzt sich Ai Weiwei mit seiner Zeit in Polizeigewahrsam auseinander. Für mehrere Wochen wurde er an einem unbekannten Ort in China festgehalten. Der Künstler verarbeitete diese Lebensphase auf ungewöhnliche Weise. Er präsentiert in der Ausstellung eine Rekonstruktion seiner Zelle und lässt diese von den Besuchern begehen.
Zusätzlich bildet er die Zelle als verkleinerte Modelle ab, in die ich von außen blicken darf. In den Modellen sehe ich Ai Weiwei mit seinen Bewachern in verschiedenen Situationen. Ich werde dadurch zum Voyeur. Ai Weiwei ist selbst beim Duschen nicht allein. Ich frage mich, ob man als Mensch bei so einer engen Kontrolle eine Art Beziehung zu seinen Bewachern aufbaut. Und wie sich diese beschreiben lässt.
Über Lego und Marmor
Ai Weiwei hat offensichtlich Lego und Marmor als Gestaltungsmittel für sich entdeckt. Ich sehe an den Wänden viele Abbildungen, die aus kleinen Legosteinchen zusammengesetzt sind. Darunter auch problematische Themen, die aber durch das Kinderspielzeug ein wenig an Schärfe verlieren.
Ein Mosaik beeindruckt mich besonders. Es zeigt den chinesischen Regimekritiker während seiner Verhaftung. Die Grundlage ist ein Foto, dass er von sich selbst in diesem Moment anfertigte. Die übergroße Darstellung mit Lego-Bausteinen lässt den flüchtigen Augenblick zu einer monumentalen Gedenkfläche einfrieren.
Monumental auf eine andere Art und Weise sind seine Kunstwerke aus Marmor. Hier finde ich einen gemütlichen (?) Polstersessel und einen sicherlich sehr stabilen Bergarbeiterhelm. Ein Go-Kart für Kinder aus Marmor lässt die Wahl des Werkstoffs endgültig absurd wirken. Ich bewundere die Qualität der Arbeiten. Optisch hätte ich dem Polstersessel die Gemütlichkeit durchaus zugetraut. Allerdings durfte ich den Sessel nicht ausprobieren. Ist ja ein Kunstwerk.
… und die Sache mit den Tierkreiszeichen
In einem weiteren Raum stoße ich auf Skulpturen, die einen Kreis bilden. Es handelt sich um die chinesischen Tierkreiszeichen. Sie sind mir nicht unbekannt, sah ich schon eine größere Ausgabe davon einige Jahre zuvor rund um den Teich am Oberen Belvedere. An den Wänden finde ich die Tierkreiszeichen in Kombination mit westlichen Bauten als Lego-Mosaike ausgeführt. Ich frage mich, nach welchen Grundsätzen der Künstler die Paarungen festlegte? Vor dem Weißen Haus sitzt jedenfalls ein Hund.
Über die Filme von Ai Weiwei
Die Filme und Dokus sind alle länger als eine Stunde. Es lohnt sich, diese zur Gänze anzusehen. Allerdings braucht es dafür ein gutes Standvermögen und entsprechend viel Zeit. Oder eine Jahreskarte der Albertina. Ich denke, ich werde immer wieder mal für einen weiteren Film in diese Ausstellung gehen.
Fazit
Die Retrospektive verschaffte mir einen guten Überblick, welchen Themen sich Ai Weiwei als politischer Künstler bisher gewidmet hatte. Darüber hinaus zeigte sie mir, welche verschiedenen Formen seine künstlerische Kritik annehmen kann.
Quellen / Weiterführende Links
- Link Offizielle Webseite der Ausstellung „Ai Weiwei. In Search of Humanity“